Die öffentliche Meinung ändert sich freilich schlagartig, als Johann Rosenmüller im Frühjahr 1655 aller Ämter enthoben wird und Hals über Kopf aus Leipzig flieht. Was war geschehen?
In den Archiven ist nur wenig Konkretes über den Fall zu finden, die Quellen sind erstaunlich schweigsam. Nur allgemein werden in zwei Ratsprotokollen das „von Johann Rosenmüllern bei dieser Stadt erschollene böse Geschrei“ und der „wegen einer Verbrechung flüchtige Johann Rosenmüller“1 erwähnt. Wessen Johann Rosenmüller konkret bezichtigt wird, steht dort nicht. Eine einzige zeitgenössische Quelle gibt genauer Auskunft zu den Anschuldigungen2. Es handelt sich bei diesem Dokument um einen Briefauszug, den ein Dresdner Kanzleikopist im Mai 1655 aus einem offenbar anonym aus Leipzig übersandten Schreiben erstellte. Darin heißt es, dass der Musicus Rosenmüller „der sodomitischen Knabenschänderei“ mit Thomasschülern verdächtig und wohl nach Italien geflohen sei. Unter „Sodomiterei“ wurden in jener Zeit alle nicht-heterosexuellen Beziehung zusammengefasst, also z.B. Homosexualität, sexuelle Handlungen an Tieren und auch Pädophilie. Der Fall scheint somit klar: Johann Rosenmüller hat seine Schüler sexuell missbraucht.
- Und er ist es dennoch nicht. Denn im erwähnten Briefauszug wird auch mitgeteilt, dass Briefe der Schüler entdeckt wurden, in denen jene sich verabredet hätten „eben diese Sodomiterei miteinander zu begehen“. Und mehr noch: Sechs Schüler seien danach inhaftiert und zur Sache vernommen worden. Dies zusammengenommen mit der Tatsache, dass viele Thomasschüler im 17. Jahrhundert zwischen 17 und 20, ja einige bis zu 23 Jahren waren (und altersunabhängig als Knaben bezeichnet wurden3), lässt auch die Deutung zu, dass es sich bei dem „Delikt“ um homoerotische Beziehungen zwischen (jungen) Männern handelte, was in der Moral der Zeit aber eben als nicht weniger verwerflich galt.
1 Akten E.E. Raths der Stadt Leipzig, Stadtarchiv Leipzig (Signatur nicht greifbar)
2 Der Extract liegt dem Verfasser als Faksimile vor.
3 Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm wird explizit auf die Leipziger Thomasschulordnung von 1723 verwiesen, in welcher festgelegt ist, dass „alle schüler knaben genannt, schulknaben (lat. pueri), mit einschlusz der primaner, d. h. der alte ausdruck blieb in amtlicher rede länger bewahrt.“