Anekdotisch berichtet der Göttinger Geschichtsprofessor Joachim Meyer (1661-1732), dass der Zittauer Kantor Andreas Hammerschmidt (1611-1675) um das Jahr 1650 “zur Meßzeit” nach Leipzig gekommen und im “dasigen Stadtkeller” Johann Rosenmüller (1617/191-1684) begegnet sei. Im Verlauf eines angeregten Gesprächs habe Hammerschmidt – ohne zunächst seine Identität preis zu geben – Rosenmüller gefragt, “was dieser denn von des Andreas Hammerschmidts in Zittau Composition hielte“. Das überlieferte Urteil Rosenmüllers ist eindeutig – und harsch: “Es wäre derselbe ein Clausulen Dieb und wenn er [Hammerschmidt] ihm die Manier und die Clausulen [Klauseln] nicht abstöhle, würde er nichts machen können“. Hammerschmidt reagiert darauf nachvollziehbar säuerlich, es kommt zum Streit, sogar zu Handgreiflichkeiten und die beiden müssen mühsam von Umstehenden beruhigt werden.2
Freilich ist bei diesem Bericht von einer Pointierung auszugehen. Aber was für ein Selbstbewusstsein, ja welche Chuzpe, spricht aus der Reaktion Rosenmüllers (die im Kern wohl den Tatsachen entspricht)! Und unmittelbar stellt sich die Frage: Ist dessen hohe Meinung von der eigenen Kunst tatsächlich gerechtfertigt – und worauf gründet sie sich überhaupt?
Als der in Oelsnitz/Vogtland geborene Johann Rosenmüller im Jahr 1640 an der Leipziger Universität ein Theologiestudium aufnimmt3, ist dieser Weg jedenfalls nicht abzusehen. Ja, ob sich der in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges aufwachsende Vogtländer bis zu seiner Ankunft an der Pleiße überhaupt nennenswert musikalisch betätigt, ist längst nicht sicher. Einen einzigen knappen Hinweis finden wir in der Vorrede seiner ersten Druckpublikation4. Dort schreibt Rosenmüller, dass die “prima fundamenta musices” in seiner Heimatstadt gelegt worden seien. Weitere musikalische Frühspuren haben sich jedoch bisher nicht finden lassen.
Die Entwicklung nimmt jedoch ihren Lauf, als Rosenmüller 1642 durch die Anstellung als Hilfslehrer an der Thomasschule in ein anregendes musikalisch-akademisches Umfeld und insbesondere unter den Einfluss von Thomaskantor Tobias Michael (1592-1657) gelangt. Von Michael erhält Rosenmüller künstlerische Impulse, die einen ersten – noch etwas ungestümen – Schaffensdrang auslösen. Ergebnis dessen und erster kompositorischer Fingerzeig ist die bereits erwähnte Sammlung instrumentaler Tanzsätze aus dem Jahr 1645.
Dabei ist es nicht so sehr die musikalische Substanz der Sammlung, die aufhorchen lässt – die Faktur der Sätze ist denkbar einfach, das verwendete Suiten-Modell längst bekannt5 – sondern die Aufmerksamkeit die der Druck erhält. So übersendet kein geringerer als der Dresdner Hofkapellmeister Heinrich Schütz (1585-1672) ein eigens dafür verfasstes Lobgedicht aus der sächsischen Residenzstadt. Mit barockem Pathos, jedoch voller ehrlicher Wertschätzung heißt es darin6:
So fahre fort, mein Freund, obgleich die Dornen stechen
der edlen Music Kunst die Rosen abzubrechen,
ja fahre fort noch mehr zu sammeln ihrer ein
ich sehe Floram schon auffwärtig dir zu sein
und einen Ehrenkranz mit ihrer Hand zu winden
der nicht verwelcken wird, den kein Neid wird auffbinden
dass deines Namens Ruhm in Deutschland bald angehn
durch Famam ausgebreit und löblich wird bestehn.
Überschickt aus Dreßden von
Heinrich Schützen, Capellmeistern
Da staunt man nicht schlecht und fragt sich, was den “Vater der modernen deutschen Musik” dazu bewogen haben mag, das handwerklich solide, aber künstlerisch wenig spektakuläre Opus mit solchen Zeilen zu adeln. Und es ist beileibe nicht nur Schütz, der sich zum Fürsprecher der Rosenmüllerschen Sache macht: vier Druckseiten voller epigrammatischer Hochachtung vom Who is Who des kulturellen Leipzigs kann der junge Musikus versammeln!7 Dieser allgemeine Überschwang ist nur erklärlich, wenn man davon ausgeht, dass bei Drucklegung im Oktober 1645 bereits ungleich reifere und zukunftsweisendere Werke Rosenmüllers bekannt gewesen sein müssen.8
Und in der Tat spricht einiges dafür, dass die Karriere des Jungkomponisten im Jahr 1645 einen entscheidenden Schub erhält. Ab dieser Zeit verantwortet Rosenmüller, wie Michael Maul nachgewiesen hat9, die Kirchenmusik für die hohen Festtage an der Leipziger Paulinerkirche (Universitätskirche). Er agiert damit de facto als Universitätsmusikdirektor, möglicherweise anfangs in Vertretung des seit langem gichtkranken Tobias Michael. Solchermaßen exponiert, steigt Rosenmüllers Ansehen in weiten Kreisen der Stadt und damit auch die Nachfrage nach seinen Kompositionen. Beleg dafür ist das erste erhaltene Gelegenheitswerk aus seiner Feder, eine ausladende Hochzeitsmusik für den schwedischen General Douglas, die im November 1645 unter Rosenmüllers Leitung zur Aufführung kommt.10
Als folgenreichstes Ereignis jenes Jahres erweist sich allerdings die Begegnung mit und beginnende Förderung durch Heinrich Schütz.11 Erst mit dem großen Kapellmeister als Mentor erlangt Rosenmüller jene satztechnische Meisterschaft, die sein Werk ab den späten 1640er Jahren auszeichnet. Und angeregt insbesondere durch die Symphoniae Sacrae seines väterlichen Förderers beginnt Rosenmüller, sich mit dem für ihn so prägenden italienischen Konzertstil auseinander zu setzen.
Um diesen Stil gründlich zu studieren, bricht Johann Rosenmüller Ende 1645 zu dessen Quellen auf. Über seine Abreise nach Italien sind wir genau informiert, denn es existiert ein Eintrag im Protokollband des Collegium Gellianum12 für den 1. Advent 1645, in dem es heißt: “(…) gratiam Collegii nostri a Rosemullero [sic!], suavissimo melopoeta compositum, antequam is abiret in Jtaliam13.” Neben der genauen Datierung ist vor allem interessant, dass der Protokollant den Komponisten einen “suavissimo melopoeta compositum” nennt. Bereits in dieser frühen Wirkungszeit gilt also der liebliche Ton als das unverwechselbare Markenzeichen Rosenmüllers.
Aus späteren Quellen wissen wir, dass die Studienreise den jungen Komponisten (auch) nach Venedig führt, wo er ganz in das pulsierende Musikleben der Lagunenstadt eintaucht. Neben den Concerto-Modellen der venezianischen Meister widmet er sich vor allem dem Madrigalstil des eben erst verstorbenen Claudio Monteverdi (1567-1643). Dessen harmonischer Reichtum und “bildhafte und bewegliche Textbehandlung” (Peter Wollny) üben einen großen Reiz auf den nach Innovation drängenden Komponisten aus. Reich bepackt mit Erfahrungen (und sicher auch Musikalien), kehrt Rosenmüller im Sommer 1646 nach Leipzig zurück und beginnt unmittelbar, die erlernten Prinzipien für seine Kompositionen fruchtbar zu machen.
Ein erster Ertrag der nachvenezianischen Phase sind die Kern-Sprüche mehrenteils aus Heiliger Schrift, die Rosenmüller im Jahr 1648 vorlegt (ein zweiter Teil wird 1652/53 folgen). Die gedruckte Sammlung enthält unterschiedlich besetzte und dimensionierte Vokalkonzerte auf Bibeltexte und freie Dichtung. Rosenmüller demonstriert darin seine erworbenen kontrapunktischen Fähigkeiten und erkundet gleichzeitig neue Klangräume und Dispositionen. Die Instrumente werden in den größer angelegten Werken bereits mit einiger Eigenständigkeit geführt. Zwar dienen die instrumentalen Anteile noch vorwiegend der Strukturierung (Sinfonia, Ritornell, motivische Antwort), jedoch finden sich immer wieder auch Passagen, in denen Rosenmüller die Instrumentalstimmen in das imitative Geflecht mit einbezieht – und damit den Satz verdichtet – oder zur Klangveredelung als fröhlich figurierende Oberstimmen setzt.
Aus rezeptionsgeschichtlichen Gründen soll auf das handschriftlich überlieferte Konzert Fürchte dich nicht, denn ich hab dich erlöst, hingewiesen werden. Von allen Kompositionen Rosenmüllers ist es vielleicht das modernste, ganz sicher aber eines der zeitlosesten Werke. Hiervon zeugt auch das wertschätzende Urteil Johann Matthesons. Im Jahr 1739, nahezu ein Jahrhundert nach seiner Entstehung (!), führt der Hamburger Musiktheoretiker die Komposition in seinem Vollkommenen Capellmeister an und beschreibt deren Eingangssinfonia mit folgenden Worten14:
“Ich kann mich nicht entbrechen, bey diesem reinen, fünfstimmigen Satze die schöne Singart in jeder besonderen Stimme zu bewundern. Die Ober-Partie könnte schwerlich besser einhergehen, wenn sie auch als Solo dastünde. Die zwote hat absonderlich in den letzten Takten so viel artiges und modernes, als wenn sie diesen Tag erst verfertiget, und ohne die geringste Absicht auf die übrigen vier zu Papier gebracht worden; da sie doch über 50 Jahre alt ist. Nichts aber kann eine angenehmere und beweglichere Melodie führen, als hier der Alt tut. (…) Was endlich den Tenor und Bass betrifft, so zeiget ihre freundliche Gegenbewegung die größte Bescheidenheit an, so man verlangen mag, ohne Zwang, Verbrämung und Künsteley, ganz natürlich, gar nicht hölzern. Hier mögte man zu manchem sagen: Gehe hin und tue desgleichen!”
Es sind Werke wie dieses, die Johann Rosenmüllers kometenhaften Aufstieg begründen. Wie sehr man ihn in Leipzig schätzt, zeigt auch die Tatsache, dass der Rat der Stadt im Dezember 1653 dem Komponisten sogar schriftlich die Anwartschaft auf das Thomaskantorat zusichert, sollte Tobias Michael dahinscheiden oder sein Amt niederlegen. Doch auch über die Stadtgrenzen hinaus schätzt man die Qualitäten des Meisters. Als 1654 ein Nachfolger für das vakante Dresdner Kreuzkantorat gesucht wird, heißt es in einem vom Stadtrat beauftragten Gutachten, “daß [sich] eine qualificirtere Persohn in Dirigirung des Musicalischen Chors, Componiren und andern, was zu eines Cantoris Ambt gehörig schwerlich in Leipzigk, Dresden und andernorts finden würde.”
Rosenmüllers eingangs kolportiertes Selbstbild jener Jahre scheint also exakt die öffentliche Meinung zu reflektieren.
1 Das Geburtsjahr Rosenmüllers ist nicht eindeutig bestimmbar. In der Forschung werden derzeit zwei Hypothesen diskutiert: zum einen vom Todesjahr des Komponisten rückgerechnet die 13 Lustren (ca. 65 Jahre), die das Epitaph von 1684 nennt. Zum anderen Rosenmüllers mutmaßliches Erreichen des kleinen Stufenjahrs (=35. Geburtstag) im Jahr 1652, auf das ein gedrucktes Gedicht hinzudeuten scheint.
2 nach: MEYER, J. Der anmaßliche Hamburgische Criticus sine Crisi (1728), S. 25f.
3 Die jüngere Matrikel der Universität Leipzig (1559-1809), 2; UB Leipzig, Sig. AL 16149 M43-2
4 Paduanen, Alemanden, Couranten etc. (Leipzig, 1645)
5 Rosenmüller schreibt in der Vorrede, dass er die Sätze ursprünglich nicht zur Publikation vorgesehen hatte und nur auf inständiges Begehren vieler Freunde zum Druck gab.
6 Übertragungen aus den Quellen durch den Verfasser, sofern nicht anders angegeben
7 Darunter Thomaskantor Tobias Michael, der Rosenmüller “Amicum suum dilectissimum” nennt, Rosenmüllers (Dichter-) Freund Caspar Ziegler, verschiedene Leipziger Gelehrte und Ratsmänner
8 Hier ist etwa an frühe Evangeliendialoge Rosenmüllers zu denken (z.B. Es waren Hirten auf dem Felde), die Peter Wollny in diese Schaffensphase datiert.
9 MAUL, M. Musik und Musikpflege in Leipzig nach dem Dreißigjährigen Krieg (2001). Magisterarbeit. ungedruckt
10 Es muß dir, wertes Paar à 9 (Leipzig, 1645), S-Uu ms. 41:6
11 Schütz trifft Rosenmüller vermutlich erstmals auf der Rückreise von Kopenhagen / Braunschweig im Mai 1645 in Leipzig und wohnt vielleicht sogar einem Gottesdienst unter Rosenmüllers musikalischer Leitung bei.
12 Eine Leipziger Gelehrtengesellschaft, bei deren Zusammenkünften Rosenmüller gelegentlich musikalisch in Erscheinung tritt.
13 Übertragung: „(…) Dank an Rosenmüller, den Erfinder der lieblichsten Melodien, bevor er nach Italien ging.“
14 MATTHESON, J. Der vollkommene Capellmeister (1739), S. 85